© Bernhard Schramm

Titel Story INTRE 02 – 2021- unlimited communication – one platform

Die fünf Unternehmen 4Com, Voixen, Parlamind, Precire und Lindenbaum fusionieren zu einem neuen Unternehmen – der VIER GmbH. Rainer Holler, Geschäftsführer von VIER, erklärt INTRE, warum VIER so großes Potenzial hat und wie sich fünf Unternehmen gleichberechtigt zu einem vereinen lassen – zum Vorteil der Kunden.


EIN GESPRÄCH MIT RAINER HOLLER Geschäftsführer, VIER GmbH

INTRE: Mit VIER startet ein Player im Markt für Contact Center-Software, der zur europäischen Alternative etwa für US-amerikanische Anbieter werden will. Warum bündeln gerade diese Unternehmen ihre Kräfte? Und warum jetzt?
RAINER HOLLER: Fakt ist, dass wir bereits seit geraumer Zeit zusammengearbeitet und Kunden gemeinsam betreut haben. Die Unternehmen sind sorgfältig ausgewählt worden und ihre Produktportfolios ergänzen sich perfekt. Dauerhaft ist es aber nicht zielführend, unsere Kunden zwischen Partnern hin- und herzuschicken. Das sorgt auch für Reibungsverluste. So ist die Fusion der konsequent logische nächste Schritt. Außerdem ist das Ganze bekanntlich mehr als die Summe seiner Teile und wir wollen mehr erreichen als das, was bisher in Reichweite liegt. Wir wollen neue Zielgruppen erschließen und neue Ende-zu-EndeLösungen anbieten, denn es geht um so viel mehr als nur um Contact Center. Wir können und wollen dieses Feld nicht den großen amerikanischen Marktbegleitern überlassen. Eine solche Abhängigkeit ist für niemanden gut. Europa und Deutschland müssen sich auf sich selbst besinnen und eigene Qualitäten nutzen. Das ist europäischen Unternehmen durchaus bewusst. Dieses Potenzial werden wir, unter anderem in der DACH-Region, heben.

INTRE: Welche Strategie verfolgt VIER, um als ernsthafte Alternative aus Europa den amerikanischen Schwergewichten die Stirn zu bieten? Welche Zielgruppe steht dabei im Fokus?
Wenn fünf Spezialisten der Kommunikationstechnologie ihre mehr als 200 Expert:innen, jahrelange Erfahrung und tiefes Wissen vereinen, dann entsteht etwas Großes. Gemeinsam können wir unseren Kunden Endezu-Ende-Lösungen aus einer Hand bieten, von der Hard- über die Software bis zum Professional Service – designed, made und operated in Germany. Wir besetzen den Markt in einer Form, die es bisher noch nicht gab. Wir ermöglichen KI-assistierte Kommunikation mit Verbraucher:innen und Mitarbeiter:innen in sämtlichen Branchen und für alle Unternehmensgrößen. Es geht nicht allein um Contact Center. Unsere Produkte assistieren in allen kommunikationsintensiven Prozessen – vom Kundenservice über HR hin zur Finanzabteilung. Unsere KI-Lösungen unterstützen, automatisieren und optimieren jede Form kontaktbasierter Geschäftsvorgänge. Das beginnt sofort bei der Kontaktaufnahme, also bereits vor der Begrüßung, geht über den Dialog bis hin zur Nachbearbeitung. Wir verstehen uns als Wegbereiter für die digitale Transformation in Unternehmen.

INTRE: VIER will den neuen Standard der Kundenkommunikation setzen – wie wird der aussehen und was wird VIER anders machen als andere Player im Markt?
Unser Motto lautet: „UNLIMITED COMMUNICATION – ONE PLATFORM!” Unser Technologie-Stack für Kommunikation, Aufgaben- und Dialogverarbeitung ist die einzige Komplettlösung aus Europa – sichere Daten, deutsche Cloud und lokale Ansprechpartner inklusive! Wir liefern echte Ende-zu-Ende-Lösungen aus einer Hand. Und wir haben unsere eigene Cloud, nutzen „eigenes Blech“, wie wir immer sagen. Das heißt, wir haben vollständige Kontrolle darüber, was mit den Daten geschieht und bieten damit Sicherheit. Das kann kein anderer Player in dieser Form anbieten. Muss man das so machen? Sicher nicht, aber genau darin sehen wir unsere Differenzierung von Unternehmen, die sich unter anderem der Public Cloud bedienen.
INTRE: Die Gründungsfirmen haben teilweise über 20 Jahre Erfahrung – jetzt starten sie neu durch. Was ist der Benefit für Ihre bisherigen und künftigen Kunden? Diese Fusion ist nicht die Version 2.0 eines der Fusionsunternehmen. Ganz im Gegenteil. Es ist VIER 1.0! VIER denkt Kundendialog neu! Wir verstehen die Geschäftsprozesse unserer Kunden und kennen die Dynamik der Märkte. Unsere Lösung ist optimal auf die unterschiedlichen Fachbereiche jeder Industrie und Unternehmensgröße angepasst und vollständig integriert. So werden kontaktbasierte Geschäftsvorgänge effizienter und die User Experience spür- und messbar besser. Indem wir künstliche Intelligenz mit menschlicher Intelligenz, Erfahrung und Intuition kombinieren, wird die Interaktion einfach, natürlich und schneller als in Echtzeit. Predictive ist hier das Stichwort. Zudem begleiten wir unsere Kunden persönlich, umfassend und nachhaltig und arbeiten heute in unserer eigenen Forschungs- und Entwicklungsabteilung an den Kommunikationslösungen von morgen. So sind unsere Kunden dem Wettbewerb immer einen Schritt voraus. Wir liefern einen hochindividualisierten Standard, der im Kosten-Nutzen Verhältnis günstiger wird.

INTRE: Deutschland ist ein Land der vorsichtigen Nachdenker. Ist die Angst vor KI berechtigt oder sollte Deutschland mehr KI wagen?
In Deutschland und Europa sehen wir KI deutlich kritischer als etwa in den USA, in China oder Israel. Wir haben eine auf Sicherheit und Vorsicht fokussierte Kultur. KI ist schwierig zu erklären und hat immer den Anschein, es sei nicht „kontrollierbar“. Wie viele Filme gibt es, in denen Roboter mit KI die Weltherrschaft übernehmen? Dazu wird immer weiter das Schreckgespenst der Jobvernichtung durch KI heraufbeschworen, ähnlich dem der Digitalisierung. In der Folge nutzen gerade 5 bis 6 Prozent der Unternehmen in Deutschland KI-Lösungen. Das ist wenig, wenn man bedenkt, dass das Thema KI Einsatz bereits seit den 50er-Jahren existiert. Wir bei VIER machen es genau andersrum: Wir sehen das unglaubliche Potenzial der KI und sind davon überzeugt, dass richtig eingesetzte KI neue Möglichkeiten und neue Jobs mit neuen Qualifizierungen schafft. Und wir glauben, dass durch die Kombination beider Welten, also die Vereinigung der Stärken von Mensch und Maschine, außergewöhnliche Lösungen entstehen werden. Software ist letztlich ein Werkzeug wie jedes andere auch. Wir entscheiden, wie wir es nutzen. Es soll uns unterstützen, nicht ersetzen. Also die Angst vor KI ist zumindest nachvollziehbar. Und trotzdem, ja, wir sollten mehr KI wagen!

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INTRE: Kann man in Deutschland KI-Technologie wirklich gut entwickeln und gibt es überhaupt genug Techniker, Entwickler, Spezialisten etc.?
Um im KI-Bereich erfolgreich zu sein, braucht man hierzulande einen langen Atem. Es gibt für die Entwicklung von KI-Technologie durchaus positive Seiten am Standort Deutschland. Die KI-Forschung in Deutschland ist stark, sowohl an den Hochschulen als auch an privaten Forschungseinrichtungen wie dem Deutschen Forschungszentrum für Künstliche Intelligenz. Gleichzeitig bringt die Nähe zu unseren europäischen Nachbarstaaten einen intensiven Austausch von Knowhow und Fachkräften mit sich. Deutschland hat einiges zu bieten, stabile politische Verhältnisse und eine liberale, aufgeschlossene Gesellschaft, was junge Menschen aus anderen Ländern hierherzieht. Natürlich spüren wir in Deutschland einen War of Talents. Deshalb arbeiten wir bei VIER zum Beispiel in verschiedenen Projekten mit Hochschulen und studentischen Hilfskräften zusammen. Durch die Arbeit bei uns lernen die Student:innen das spezifische Knowhow eines KI-Unternehmens für Sprachverarbeitung kennen, das ein Studium der allgemeinen Informatik üblicherweise nicht vermittelt. Aus dem gleichen Grund sind wir auch Ausbildungsbetrieb. Damit versuchen wir, dem Fachkräftemangel entgegenzuwirken.

 

Wir verstehen uns
als Wegbereiter für die
digitale Transformation
in Unternehmen.

 

INTRE: Das heißt, ihr wollt weiterwachsen?
Ja, auch das Wachstum außerhalb Deutschlands steht an – in erster Linie in der DACH-Region.

INTRE: Sie starten mit VIER in Zeiten hoher Marktdynamik – ist das gut für den Start von VIER oder eher schwierig? Und was ist/war die größte Herausforderung bei dieser Fusion?
Wir befinden uns mitten in der Digitalisierung wenn man so will, mitten in der vierten industriellen Revolution. Klar ist die Dynamik groß, auch katalysiert durch COVID-19. Unternehmen werden gekauft, neue Unternehmen tauchen im Markt sehr schnell auf. Das ist eine Challenge. Nichtsdestotrotz glauben wir, dass wir mit VIER etwas grundlegend Neues schaffen – nicht nur was das Lösungsportfolio angeht. Das, was wir anbieten, gibt es so bislang nicht am Markt, weder in Deutschland noch in Europa noch in der Welt. Wir sind ein Technologieunternehmen, das beratend Produkte und Lösungen auf der eigenen Plattform vertreibt, auf einem Kommunikations- ökosystem. Und das ist auch gleichzeitig die größte Herausforderung: zu transformieren, weg vom Produkte Bauchladen hin zum Business- & Marktversteher, der den Kundenerfolg als oberste Maxime nimmt.

INTRE: Die Fusion betrifft aktuell über 200 Mitarbeiter bei allen fünf Unternehmen – wie nehmen Sie die mit?
Mitwirkung und Transparenz sind hier elementar. Darauf legen wir extrem großen Wert. Aus fünf Unternehmen eines zu machen, braucht die Unterstützung aller. Jeder ist aufgefordert, sich zu engagieren, Vorschläge und Ideen einzubringen und die Zusammenarbeit im Rahmen des eigenen  Teams zu gestalten. Wir haben außerdem ein eigenes, gut gemischtes Integrationsteam ins Leben gerufen, das sich um Probleme und Sorgen der Kollegen kümmert. Und es gibt ein eigenes Intranet, das sich allein mit dem Thema „VIER werden!“ beschäftigt. Klar ist aber auch, dass aus der Perspektive jedes Einzelnen nicht alles besser wird, jedoch sicher vieles anders. Deswegen ist frühzeitige, klare, transparente und ehrliche Kommunikation essenziell, auch was die Probleme und Herausforderungen angeht. Wir führen regelmäßig gemeinsame Meetings aller Kollegen mit der Geschäftsführung durch, informieren sofort, wenn es etwas Neues gibt. So können Unruhe und Gerüchte gar nicht erst entstehen. Und wir haben von Anfang an klar kommuniziert, dass wir jeden Einzelnen auf dem eingeschlagenen Weg brauchen, denn wir haben ehrgeizige Ziele und wollen den eingeschlagenen, steilen Wachstumspfad weiter gemeinsam vorangehen. Es geht darum zusammenzuwachsen, dabei soll jeder daran wachsen und seine eigene neue Komfortzone aufbauen.

INTRE: Aus Europa – für Europa: Sie beteiligen sich an der Initiative „GAIA-X“. Deren Ziel ist der Aufbau einer sicheren, vertrauenswürdigen, leistungsstarken und wettbewerbsfähigen Dateninfrastruktur für Europa bzw. die Formulierung gemeinsamer Anforderungen und Grundlagen an eine solche. Können Sie uns kurz einen Statusbericht geben?
Wir glauben daran, dass wir in Europa Datensouveränität brauchen. Die datenschutzrechtliche Situation ist noch immer kompliziert und bringt gerade US-amerikanische Unternehmen in eine Zwickmühle, welcher Legislation sie folgen sollen – dem amerikanischen oder dem europäischen Datenschutz? Leider widersprechen beide sich in Teilen. Hier kommt GAIA-X ins Spiel und wird eine wichtige Rolle spielen. Als „GAIA-X Day One Member“ führen wir eine führende Rolle in den Workstreams zum Aufbau der europäischen Cloud ein. Dies tun wir, weil wir VIER als europäische Alternative zu den vornehmlich amerikanischen Unternehmen sehen. „Designed, made & operated in Germany“ sind für uns nicht nur Worte. Es ist unsere Antwort auf die komplexe Situation, in der sich gerade deutsche und europäische Unternehmen in Bezug auf den Datenschutz befinden.

INTRE: Das Kommunikationsverhalten der Kunden verändert sich – gefühlt – fast täglich. Der Kunde ist in vielen Fällen bereits sehr gut vorinformiert, bevor er den Kontakt zum Call Center sucht, was wiederum seine Erwartungshaltung an den Service steigert. Andererseits stehen ihm heute so viele Kommunikationskanäle wie noch nie zur Verfügung. Reagiert die Customer Care-Branche entsprechend schnell auf diese Anforderungen?
Reaktion ist nicht immer das richtige Mittel, egal wie schnell se geschieht. Wir wollen proaktiv sein. Es ist wichtiger, vorwegzugehen und neue Möglichkeiten zu eröffnen, anstatt rein reaktiv zu agieren. Wir verstehen uns als Wegbereiter für unsere Kunden und wollen nicht bereits vorhandene Pfade ablaufen und diese breitertreten, wenn der Verkehr zunimmt. Wir brauchen stattdessen neue Wege oder überhaupt andere Möglichkeiten der Fortbewegung, um mal im Bild zu bleiben. Wir arbeiten agil, denken Neues und arbeiten an den Kommunikationslösungen von morgen. Im Bereich Customer Care bedeutet dies, dass wir uns eben nicht nur auf den eigentlichen Kundenkontakt fokussieren, also die Zeit während der Transaktion zwischen Sachbearbeiter und Kunde. Auch vor und nach der Transaktion sehen wir unglaubliches Potenzial. Es ist Gold wert, wenn der Sachbearbeiter einfach schon alle Informationen über den Anrufer zur Verfügung hat, wenn er ans Telefon geht. Hierzu gehören Anrufgrund, Stimmung und vergangene Kontakte. Gleichzeitig wäre es doch super, wenn wir ganz einfach herausfinden könnten, ob unsere Cross-Selling Maßnahmen greifen, ob alle Sachbearbeiter die richtigen Worte und Intonation finden oder ob sie dementsprechend geschult werden könnten.

INTRE: Das Stichwort „Automatisierung“ scheint aktuell als Heilsbringer für sämtliche Probleme im Kundenservice betrachtet zu werden. Kann das wirklich die Lösung sein?
Nein, Automatisierung ist kein Selbstzweck und führt auch nicht automatisch zu besserer Customer Experience. Wer möchte denn mit einem Bot sprechen oder schreiben, der am Ende des Tages nicht helfen kann? Niemand! Automatisierung kann nichts ausrichten, wenn schon grundsätzliche Prozesse nicht organisiert sind. Nicht selten hakt es schon beim Multichannel-Management und beim intelligenten Routing, das ist nämlich oft alles andere als intelligent. Und der Einsatz eines Bots anstelle der händischen Bearbeitung ist nicht grundsätzlich die beste Idee. Das Chaos zu automatisieren beendet bekanntlich nicht das Chaos! Die Kunst liegt darin, die Übergabe von Mensch und Maschine zu optimieren und die Stärken von beiden Welten miteinander zu verbinden – und zwar nahtlos über alle Kanäle hinweg. Wir sehen den größten Hebel darin, Assistenzlösungen einzusetzen, die die Bearbeitung durch einen Mitarbeiter unterstützen. Ein Bot kann also im Hintergrund aktiv sein und eine Assistenzfunktion erfüllen. Das macht vieles einfacher und vor allem effizienter – zum Wohle des Kunden. Derart unterstützte Abläufe bringen nachweislich mehr für die Customer Experience als ein Bot, der zwar das Wort, nicht aber den Kunden versteht

 

KI ist ein weiterer wichtiger
Pfeil im Köcher, aber wer KI
ohne Verstand einsetzt,
dem bringt sie gar nichts.

 

INTRE: Stichwort Amazon. Was kann man von Amazon lernen?
Von Amazon zu lernen, heißt für mich, von Jeff Bezos zu lernen! Ich möchte das auf vier Themen runterbrechen: Kundenservice, langfristiges Denken, Innovationen und Unternehmenskultur. Amazon versucht, den Einkauf zum Erlebnis zu machen, von der Bestellung bis zur Rücksendung und Gelderstattung. Hierbei schaut Bezos nicht auf einzelne Wettbewerber, um sie gezielt anzugreifen. Nein, mit Amazon steckt er sich eigene Marktziele und verfolgt diese langfristig und erfolgreich. So macht man sich unabhängig im Denken. Wer hätte gedacht, dass aus einem Online-Buchshop das weltweit größte Logistikunternehmen oder die erste Public Cloud oder der größte Online Marktplatz werden würde und daraus eines der fünf größten Unternehmen – im Hinblick auf Marktkapitalisierung – der Welt werden würde? Wahnsinn! Das nenne ich mal langfristige Planung oder langer Atem, wie wir das sagen würden. Das alles geht nur durch Innovationen. Amazon ist Vorreiter der Digitalisierung und innoviert im Großen, so etwas wie Geschäftsmodelle, aber auch im Kleinen. Wer von uns schaut nicht auf Kundenrezensionen und vertraut diesen mehr oder weniger …? Dafür braucht es die richtige Unternehmenskultur, eine, die Freiräume lässt und Fehler verzeiht. Denn dann wird man ein Mitarbeitermagnet für kompetente Mitarbeiter. Ich muss diesen kompetenten Mitarbeitern dann auch im Rahmen der aufgestellten Prinzipien die Entscheidungen überlassen, die Möglichkeit zu Fehlern und Scheitern inklusive. Nur so fördert man Ideen und Innovation. Wer das Scheitern verhindern will, schränkt die Mitarbeiter im Denken ein. Das kann später teuer werden. Ein solches Vorgehen braucht aber Mut auf beiden Seiten: Als Manager muss ich den Mut haben, nicht alles selbst zu entscheiden. Gleichzeitig müssen Mitarbeiter aber auch mutig genug sein, Verantwortung zu übernehmen, um diese Freiräume auch zu nutzen, denn wir bauen heute die Technologie, die morgen gebraucht wird. Jede Idee kann eine Gelegenheit sein. Neunmal kommt Blödsinn dabei raus, aber beim zehnten Mal rauscht es so richtig.

INTRE: Bill Gates hat früher einmal pro Jahr eine sogenannte Think Week abgehalten. Dazu hat er sich zurückgezogen und neue Ideen entwickelt – Stichworte Perspektivenwechsel und „Open Mind“. Haben Sie auch eine Think Week?
Wir haben zwar keine Think Week, jedoch haben wir ähnliche Formate. Zusammen mit den Gesellschaftern nehmen wir uns die Zeit, um andere Geschäftsmodelle, auch branchenfremde oder nur teilweise erfolgreiche, zu analysieren und uns Ideen zu holen und diese auf uns zu adaptieren. Generell haben unsere Mitarbeiter zudem Freiräume, um eigene Ideen zu entwickeln und voranzutreiben. Oft kommen wir so zu „Bindestrich-Innovationen“, wie ich das nenne. Das heißt, wir verbinden zwei schon bekannte Teile und daraus entsteht etwas komplette Neues. Dieser Input fließt in unseren „Scrum of VIER“, ein Planungsmeeting, in dem wir die Ideen „operationalisieren“ und in Form von sogenannten Testballons in unsere Roadmap einfließen lassen. Am Ende resultiert hieraus der Demo Day, an dem dann die Mitarbeiter ihre umgesetzten Ideen stolz präsentieren. So ist zum Beispiel unser Sentiment-based Routing entstanden. Hier wird der Anrufer basierend auf seiner Stimmung und dem Anrufgrund zum richtigen Sachbearbeiter geroutet. Wer möchte schon, dass ein eh schon aufgebrachter Anrufer beim gerade gestarteten Trainee landet …

INTRE: Sie „analysieren, um zu verstehen“. Was ist damit gemeint?
Die Analyse der Kontaktaufnahme ist die Basis für eine außergewöhnliche Customer Journey. Ich muss verstehen, was gesagt wurde und wie es gesagt wurde, um das Kundenbedürfnis befriedigen zu können. Nur so kann ich dem Sachbearbeiter und damit auch dem Kunden die richtigen Informationen zur Verfügung stellen und auch die richtigen Schritte einleiten. Für uns sind Sprachanalyse und der Einsatz von KI kein Selbstzweck. Irgendwas analysieren kann jeder – doch was macht man mit den Ergebnissen? Wir sehen unser wichtigstes Ziel darin, wirklich zu verstehen, was ein Kunde wünscht, wenn er sich bei einem Unternehmen meldet. Es geht um die Kundenbedürfnisse. Einen Anrufer einfach anhand einiger Stichworte über die IVR zur Abteilung X zu lenken, heißt doch nicht, dass wirklich verstanden wurde, worum es dem Anrufer geht und wie genervt er vielleicht schon ist. Stattdessen führen wir Daten zusammen und analysieren diese schon vor dem Kontakt, während der Interaktion und auch danach. Das liefert interessante Einsichten und deckt neue Zusammenhänge auf, und zwar an jeder Stelle der Customer Journey. So verstehen unsere Unternehmenskunden die Interaktionen mit ihren Kunden besser und das ermöglicht eine kundenfreundliche Assistenz und Automatisierung!

INTRE: Zu VIER fusioniert ist auch der Sprachanalyse Anbieter Precire. Dessen Software ist umstritten, weil sie in der Lage sein soll, aus der Analyse einer 15-minütigen Stimmprobe wichtige Charaktereigenschaften des Sprechers ermitteln zu können. Das ließe sich beispielsweise dazu nutzen, die Eignung eines Menschen für einen bestimmten Job zu erkennen. Wie reagieren Sie auf solche Ängste und Kritiken?
Ich kann nachvollziehen, dass man Angst vor Neuem hat. Das war schon immer so, gerade wenn es den Eindruck erzeugt, Bestehendes ablösen zu wollen. Unbestreitbar interpretiert Precire gesprochenes und geschriebenes Wort exakt nach 42 Kriterien. Das tut die Maschine zuverlässig, schnell und extrem gut. Das kann der Mensch nicht. Er kann auch nicht binnen weniger Stunden zigtausende Gesprächsaufzeichnungen anhören. Aber KI kann nicht das, was Menschen besonders gut können: kreativ und empathisch sein – Stichwort Fingerspitzengefühl. Einer Maschine tut ein Fehler nicht leid, selbst dann nicht, wenn sie sich dafür entschuldigt. KI kann unerwartete Zusammenhänge aufdecken und schnell Analysen durchführen. Aber für die Schlussfolgerungen daraus braucht es den Menschen. Man sollte also keine Angst vor KI haben, sondern sie vernünftig einsetzen. KI ist ein weiterer wichtiger Pfeil im Köcher, aber wer KI ohne Verstand einsetzt, dem bringt sie gar nichts. PRECIRE ergänzt und verdrängt nicht.

INTRE: Was hat VIER mit dieser Software vor und welche Einsatzszenarien sehen Sie?
Die Technologie von Precire ist ein wichtiger Baustein unserer Innovationsstrategie. Wir stärken damit unser Knowhow im Bereich Sprachanalyse und bringen durch psychologische Verfahren neue, wertvolle Kompetenz ins Unternehmen. Es werden viele neue Anwendungsfälle entstehen, die uns in die Lage versetzen werden, Dinge im Kundenservice-Kontext anbieten zu können, die kein anderer kann und hat. Außerdem werden wir die bestehenden Partnerschaften und Kundenbeziehungen im bestehenden Precire-Kontext natürlich erhalten und ausbauen. Dazu zählt auch der Einsatz dieser Technologie im HR-Bereich, etwa für Persönlichkeitstests, auch mit Fokus auf Personalentwicklung, und verstärkt für die Kommunikation im Finanzbereich.

INTRE: Von einzelnen Unternehmen zu einem, von einem Standort zu vielen – und das unter COVID-19-Bedingungen. Wie kann das gelingen?
Das ist schon eine riesige Herausforderung! Zumal es nicht nur darum geht, alle Kollegen der früheren Unternehmen auf die gemeinsame VIER-Reise mitzunehmen – nein, wir wachsen massiv und haben zahlreiche Mitarbeiter im Unternehmen, die „live und in Farbe“, also Face-to-Face, noch keinen anderen Kollegen gesehen haben. Führung im Remote Office ist nicht einfach, es macht die Mitarbeiterbindung schwierig. Denn das Unternehmen und die Kultur SIND die Mitarbeiter, das funktioniert nicht nur top-down. Um das zu covern, braucht es viel Engagement von allen Seiten und natürlich auch die richtige technische Basis. Wir haben aber zum einen den Vorteil, dass unsere Unternehmenskulturen
und unsere Werte sich sehr stark ähneln, das passt also ganz gut. Und hey, wenn wir es als Anbieter cloudbasierter, standortübergreifender Lösungen nicht schaffen, verteilte Standorte zu vereinen und technisch zu kollaborieren, wer denn dann? Wir setzen dabei auch auf die Verantwortung jedes einzelnen Mitarbeiters und jedes Teams: Denn jedes Team entscheidet selbst, wie es zusammenarbeitet, wie oft sie sich virtuell oder vor Ort treffen und wie die Arbeit verteilt wird. Wir geben nur die Leitplanken vor. Es gibt keine Teamleads mehr, daran mussten sich manche natürlich erst gewöhnen. Aber so findet jedes Team genau die Form, die es für sich braucht.

INTRE: Wenn wir uns in einem Jahr wieder treffen: Wo steht VIER dann?
Am liebsten ganz rechts oben im Gartner Magic Quadrant – vor allem weiter in unserer Transformation mit einem Team, das erfolgreich zurückblickt und stolz sagen kann: Das war ein wilder Ritt, hat aber verdammt viel Spaß gemacht!

ÜBER Rainer Holler
Rainer Holler, Jahrgang 1975, ist CEO der VIER GmbH. Der Diplom-Kaufmann und EMBA Holler hatte zuvor im Dezember 2018 die Geschäftsführung von 4Com übernommen. Dort stellte er das Unternehmen auf die Prinzipien der agilen Software-Entwicklung um und führte eigenverantwortliche Teams ein. Seit 2020 vereinigte er sukzessive die Unternehmen 4Com, Lindenbaum, Parlamind, Voixen und Precire als Partner zur 4TechnologyGroup. Anschließend verantwortete er die Fusion der Partnerunternehmen zur neuen VIER GmbH. Mit VIER will Rainer Holler den neuen europäischen Standard für Kundeninteraktion setzen.


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